Betroffene sprechen... über sich


Wenn die Sprache plötzlich weg ist!

 

 

Hans-Peter Weichelt

Schlaganfall mit 37 Jahren (2000)

Der Schicksalsschlag

Der 03.04.2000 begann für mich wie ein normaler Tag. Ich rauchte nachmittags eine Zigarette, aber ich fühlte mich nicht wohl. Mir war plötzlich sehr schlecht und ich schaffte es gerade noch bis zur Toilette, um mich zu übergeben. Mit Mühe kam ich bis zum Bett. Ich fühlte mich ganz mies. Ich wollte noch etwas schlafen, denn ich hatte eine Nachtschicht mit 14 Stunden vor mir - aber es wurde nicht besser. Erschrocken stellte ich fest, dass die rechte Seite meines Körpers nicht reagierte. Bei meinen Versuchen aufzustehen, fiel ich immer wieder um. Ich zog mich an den Möbelstücken langsam hoch und vorwärts, aber es war sehr mühsam. Ich versuchte, mir eine (meine letzte) Zigarette anzuzünden und mich umzuziehen. Als ich es endlich geschafft hatte, mußte ich mich setzen.

 

Alles fühlte sich weit entfernt und gleichzeitig nah an. Ich torkelte in meiner Wohnung hin und her. Mir ging es immer schlechter (Übelkeit, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen nahmen zu), und so entschied ich mich bei meiner Firma krank zu melden.

 

Danach telefonierte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester und versuchte zu beschreiben, wie es mir geht: „Mir ist sehr schlecht! Mir ist die rechte Seite wie eingeschlafen... Kann mich einer zum Arzt fahren?“ Kurze Zeit später rief meine Schwester mich zurück: „... Der Notarzt kommt!“ 

 

Mir war immer noch sehr übel, aber ich mußte es irgendwie schaffen, die Wohnungstür zu öffnen. Ich schaffte es gerade noch bis zur Tür zu robben - dann war es aus. Ich lag in meinem Korridor und konnte nicht mehr aufstehen!

 

Der eintreffende Notarzt stellte mir viele Fragen, aber ich wusste nur, dass mir sehr schlecht war. Als meine Schwester ankam, machte sie die notwendigen personellen Angaben.

 

Schließlich wurde ich mit dem Notarztwagen zum Klinikum Ernst von Bergmann gebracht. Ich übergab mich noch einmal und dann wurde alles schwarz....

 

Aus den Berichten meiner Familie erfuhr ich später genaueres über diese ersten Tage und die folgenden Wochen!

 

Anruf bei meiner Mutter. Sie erinnert sich:

 

„Peter klagte seit Mittag über Übelkeit, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Zuerst vermutete ich, dass er etwas Schlechtes oder Verdorbenes gegessen hatte. Mein Vorschlag war es, nach seiner Nachtschicht zur unserer Hausärztin zu fahren, um abzuklären, was zu tun ist. Als Peter aber dann erzählte, daß ihm die rechte Seite wie eingeschlafen und taub war, habe ich ihm geraten, auf keinen Fall selbst mit dem Auto zu fahren, sondern seine Schwester zu bitten, ihn abzuholen und zur Ärztin zu bringen. Das versprach er zu tun.“

 

Anruf bei meiner Schwester. Sie erinnert sich:

 

„Als Peter mich anrief und fragte, ob ich ihn zum Arzt bringen könnte, klang seine Stimme, als ob er betrunken sei - er lallte, konnte aber noch alles sagen. Ich fragte ihm, ob ihm etwas weh täte. Er antwortete „nein“, aber seine rechte Gesichtshälfte kribbelte und er könne sich kaum auf den Beinen halten.

Da bekam ich ein ungutes Gefühl und sagte ihm, er sollte sich hinsetzen und warten, ich würde ihm helfen – wie genau wußte ich noch nicht.

 

Ein Kollege, der zufällig neben mir stand, meinte nach kurzer Absprache, daß ich sofort den Notdienst anrufen sollte, was ich dann auch tat. Vor lauter Aufregung hätte ich beinahe vergessen, die Adresse von Peter durchzusagen. Ich war sehr nervös!

 

Als ich bei Peters Wohnung ankam, stand der Krankenwagen schon vor der Haustür. Allerdings waren die Krankenfahrer gerade noch dabei mit der Feuerwehr zu diskutieren, weil die Haustür verschlossen war. Sie wollten durch ein Fenster einsteigen. Zum Glück kam in diesem Moment eine Bewohnerin des Hauses und konnte die Eingangstür aufschließen. Schon im Hausflur konnte ich erkennen, dass Peters Wohnungstür offen stand. Er saß zusammengesunken im Flur - das Bild werde ich nie vergessen!

 

Die Rettungssanitäter halfen Peter beim Aufstehen - er wurde in einen Sessel gesetzt und bekam eine Spritze. Man versuchte mit ihm zu sprechen und er erzählte mit Mühe, dass er sich sehr schlecht fühle. Man beriet sich, in welches Krankenhaus er eingewiesen werden sollte und entschied sich für das Ernst von Bergmann-Klinikum.


Im Krankenhaus

In der Notaufnahme wurden erste Untersuchungen durchgeführt. Meine Schwester blieb an meiner Seite bis zur Einweisung in die Fachklinik für Neurologie. Sie erinnert sich, dass ich kaum noch sprechen konnte und meistens meine Augen geschlossen hatte – Fluchen funktionierte allerdings noch wunderbar. Wir sangen leise zusammen „It s a long way to Tipperrayri“. Zum Abend hin fuhr meine Schwester nach Hause, um auch den Rest der Familie zu informieren. Es war ein großer Schock für alle!!!

 

Eine Ärztin von meiner späteren Station sprach mich an und fragte, ob ich bemerkt habe, dass ich kaum noch Worte sagen könne. Obwohl man noch keine eindeutige Diagnose erstellt hatte, vermutete man sofort einen Schlaganfall.

 

Im Bericht des Klinikum Ernst von Bergmann heißt es zur Diagnose des Patienten: Ischämischer Infarkt im rechten Kleinhirn und Teilinfarkt im Mediastromgebiet links. Symptomatische fokale Epilepsie mit komplex-fokalen Anfällen, Grand mal und Fotosensibilität.


Die ersten Tage nach dem Schlaganfall

04.04.2000

 

Beim ersten Besuch von meiner Mutter und Schwester lag ich noch apathisch und mit hochrotem Kopf am Tropf. Sie erzählten mir später, dass ich auf die Frage, ob ich sie erkennen würde und was eigentlich passiert sei, nur mit undeutlichen Lauten, etwa wie „ich weiß es nicht“, geantwortet haben soll. Ihren Beschreibungen zufolge habe ich meine Familienmitglieder nicht wiedererkannt (bzw. nicht zu verstehen gegeben, dass ich sie wiedererkannt habe). Ich war noch sehr orientierungslos und schnell ermüdet.

 

Meine Schwester erinnert sich:
„Peter weinte an diesem Tag sehr viel und flüsterte Wörter wie „Scheiße“ und „Paris“. Aber andere Worte konnte er nicht mehr sagen bzw. konnte nur leise Laute von sich geben. Bei „Paris“ kamen ihm immer die Tränen.“

 

In den folgenden Tagen und Wochen werden umfangreiche medizinische Untersuchungen eingeleitet und durchgeführt, um Therapie abzuklären...

 

05.04.2000.

 

Bei ihrem nächsten Besuch hänge ich immer noch am Tropf, aber sie berichten mir, dass kleine Bewußtseinsverbesserungen festzustellen sind und man bemerkt, dass ich bei manchen Fragen hin und wieder etwas verstehe. Antworten kann ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht – mir fehlen die entsprechenden Worte. Ich kann in diesen Tagen immer nur sagen: „Ich weiß es nicht!“

 

Mein Erinnerungsvermögen ist weitgehend ausgeschaltet. Die motorischen Bewegungen auf der rechten Seite sind stark eingeschränkt. Ich kann z. B. eine Tasse nicht mehr mit der rechten Hand halten und bis zum Mund führen oder mit dem Besteck umgehen. Von diesem Tag an entscheide ich für mich: „Keine Zigaretten mehr, nie mehr rauchen!“, obwohl ich die Worte dafür nicht aussprechen kann.

 

06.04.2000

 

Endlich bin ich wach. Ich versuche mich zu orientieren und lispele so etwas wie „Wo bin ich? Wer bin ich?“. Die Schwestern betreuen mich sehr aufmerksam, versuchen mit mir zu sprechen – aber ich kann erst sehr wenig verstehen. Noch befinde ich mich eher in einem Dämmerzustand. Dennoch hat sich meine Situation drastisch verbessert. Ich erkenne meine Mutter und meine Schwester. Ich weiß zwar nicht, wo ich bin, aber mir geht es besser.

 

Ich schaue mich um und will fragen: “Hallo, wo bin ich denn??“, aber das gelingt noch nicht. Langsam erkenne ich auch andere Familienangehörigen wieder, verwechsle allerdings noch oft ihre Namen. Auch die Namen der Schwestern, die mich betreuen bringe ich oft durcheinander. Alles ist Chaos im Kopf! Zu viele Damen um mich herum! Mitunter muss ich den Kopf schütteln, wenn mich jemand fragt „Erkennst Du mich?“ oder eben sehr lange nachdenken.

 

Nachdem ich nun endlich meine Familie erkenne, spürt man eine starke Erleichterung. Ich darf nun mit Hilfe aufstehen und erste Schritte im Zimmer und zur persönlichen Körperpflege unternehmen. Endlich gibt es auch etwas Anständiges zum Essen. Essen am Tisch, und nicht mehr aus der Tube (Tropf). Auch bemühe ich mich mittels einfacher Worte mit anderen zu verständigen, aber trotz intensiver Bemühungen fehlen meist die richten Worte und es bleibt bei einem „Ich weiß es nicht!“

 

Es beginnt für mich eine Phase von „Wortneuschöpfungen“, die oft die ulkigsten Silbenverbindungen erhalten, z. B. Liwesch = Salate, Lischta = Nudeln, oder auch anschlafen = anfangen.

 

07.04.2000

 

Es war ein wunderschöner neuer Morgen. Am Horizont schiebt sich ganz langsam die Sonne hervor. Ihre dunkelroten Strahlen leuchten wie golden. Kein Wölkchen steht am Himmel. Die Vögel singen ihrer Lieder. Jetzt wird mir erst bewusst: Ich lebe noch! Was passiert ist, kann ich noch nicht verstehen. Aber ich weiß, ich habe eine zweiten Chance!

 

Ich erhole mich immer mehr und bin sehr froh darüber. Laut der Einschätzung der Ärzte bin ich stabil und muß nicht mehr an die Nadel! Essen kann ich schon wieder selbständig, auch wenn es natürlich langsamer vorangeht.

 

Ab heute beginnt auch meine Sprachtherapie. Ich merke, dass die Worte alle weg sind und ich alles wieder neu lernen muss. Alles wird immer und immer wieder wiederholt: „Der Kamm, der Hammer, ... wie sie aussehen... und wozu man sie benutzt…“. Aber die Worte fehlen mir trotzdem. Stattdessen kommen ulkige Kombinationen heraus. Das ist der Beginn einer jahrelangen intensiven Sprachtherapie. Gleichzeitig muss ich zur Physiotherapie und eine strenge Diät einhalten. Da all das furchtbar anstrengend für mich ist, schlafe ich in den Pausen recht viel. Zu den Bucherzeiten kommt meine Familie regelmäßig, damit ich mich nicht so allein fühle.

 

08.04.2000

 

Ich habe immer noch Probleme mich richtig auszudrücken. Da ist immer noch eine absolute Leere in meinem Kopf ist. Manchmal fühle ich mich wie in einem Raumschiff. Informationen müssen langsam und klar gesagt werden, damit ich sie verstehe – und selbst dann fällt es mir sehr schwer. Ich will in die Welt hinausschreien: „Ich will wieder lesen und schreiben können!“ Doch das wird viel Zeit dauern und kosten.

 

Als erstes muss ich das Alphabet wieder erlernen: Wie fängt es an? Wie sieht ein "A" aus? Früher wusste ich das mal. Aber nun!? Fragen über Fragen, und keine Antwort. Niemand versteht mich, aber zum Glück gibt es genug Menschen um mich herum, die versuchen meine Gedanken trotz der gestammelten Laute nachzuempfinden. Die Spachtherapeutin hilft mir nun jeden Tag, etwas neues zu lernen und altes zu wiederholen. So bemerke ich, dass auch mein Gedächtnis wieder zu funktionieren beginnt. Darüber bin ich wirklich glücklich. Und so übe ich jeden Tag eifrig lesen und schreiben – auch wenn es mir sehr oft schwer fällt sich die Buchstaben zu merken. Es geht leider nur sehr langsam voran!!! Aber ein Anfang wurde gemacht und Besserungen folgen! Solange die Leute langsam mit mir sprechen, verstehe ich die Inhalte und kann auch mit einzelnen verständlichen Worten zum Ausdruck bringen, was ich will und denke.

 

Beim langsamen Herumlaufen im Krankenzimmer bemerke ich immer wieder Unsicherheiten und Schwankungen, aber meine motorischen Bewegungen werden präziser. Durch physiotherapeutische Übungen wird mein Bewegungsapparat immer weiter trainiert. So kann ich z. B. eine Tasse schon einige Zentimeter von der Tischplatte mit der rechten Hand hochheben.


Die Zeit danach...

Nach den 5 Wochen im Klinikum Bergmann, folgen 6 Wochen in der Reha in der Fachklinik Wolletzsee.

 

Innerhalb eines Zeitraums von 4 1/2 Jahren wurde meine Sprache größtenteils wiederhergestellt. Die Sprachtherapeuten im ZAPP Potsdam haben mir dabei sehr geholfen. 

 

Als ich merke, dass ich mit den Problemen der Aphasie nicht allein war, wollte ich gerne auch anderen Menschen helfen und mit ihnen in Kontakt treten. Deswegen habe ich im Jahre 2001 dann die Selbsthilfegruppe Aphasie Potsdam gegründet.